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Deutsche Medien und Fukushima

Im März 2011 gab es ein gigantisches Erdbeben vor der Küste Japans, gefolgt von einem riesigen Tsunami. Über zwanzigtausend Menschen verloren ihr Leben, ganze Dörfer und Städte wurden ausradiert, große Landstriche sind dank der Überschwemmungen, die unter anderem giftige Stoffe aus Industrieanlagen mitgespült hatten, vermutlich für Jahrzehnte nicht mehr für die Landwirtschaft zu gebrauchen.

Der Fokus der Medien lag aber auf dem Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, welches von Erdbeben und Tsunami weit über seine Belastungsgrenzen hinaus beansprucht wurde und deswegen schwere Schäden erlitt. Die Folge: Ausfall der Kühlung, Freisetzung von Radioaktivität, Kernschmelzen. Der schwerste Unfall in einer kerntechnischen Anlage seit Tschernobyl wird zweifellos Langzeitauswirkungen haben, deren Umfang heute immer noch nicht ganz klar ist.

All das ist so schlimm genug – was die Medien insbesondere in Deutschland daraus noch gemacht haben, ließ vermutlich in nicht wenigen Menschen die Befürchtung aufkommen, ihr Strahlentod stehe bevor, sei es durch Fukushima Daiichi oder durch einen auf absehbare Zeit unvermeidbaren GAU in einem deutschen Kernkraftwerk. Kurzfristige Spitzen in der Strahlungsbelastung auf dem Kraftwerksgelände wurden gemeldet, als wäre dies ein Omen für die gesamte Region, Beschränkungen für Trinkwasser und Lebensmittel in einigen Orten wurden vermeldet, als würde der Verzehr nächtliches Glühen hervorrufen. Dabei sind die Grenzwerte bewusst sehr niedrig angesetzt und basieren eher auf politischen Erwägungen als auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Gefährlichkeit radioaktiv belasteter Lebensmittel. Als man an fünf Stellen um das Kraftwerk herum in Bodenproben Plutonium nachweisen konnte, wurde dies als ganz üble Entdeckung dargestellt, bis man feststellte, dass nur zwei der Proben Plutonium aus dem Reaktor enthielten (der Rest stammte vom Fallout der atmosphärischen Atombombentests in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg). Das war keine gute Nachricht, was den Zustand des Reaktors anging, aber für die Leute außerhalb des Kraftwerks eigentlich irrelevant, da die Plutoniumbelastung auch in diesen beiden Proben nicht höher war als an anderen Stellen in Japan, die sie nur den Atombombentests verdankten. Das grundlegende Problem, wenn es darum geht, die Bevölkerung über die Gefahren radioaktiver Strahlung aufzuklären: Die langfristigen Folgen der Radioaktivität lassen sich nicht sehr gut einschätzen. Krebs kann durch natürliche Radioaktivität entstehen, ebenso durch künstliche Radioaktivität – oder aber auch ganz andere Ursachen haben. Wer alt genug wird, darf ruhig davon ausgehen, dass er in seinem Körper einen Tumor heranzüchtet. Die künstliche Radioaktivität, die man üblicherweise zusätzlich zur natürlichen Dosis aus dem Erdreich und dem Weltall abbekommt, erhöht diese Wahrscheinlichkeit nur um einen winzigen Bruchteil. Wer sich in Deutschland Sorgen um Radioaktivität macht, sollte nach Norddeutschland ziehen, weil im Süden die natürliche Strahlenbelastung durch Radon deutlich höher ist.

Auch sonst war die Berichterstattung über Fukushima Daiichi mehr auf Drama als auf Aufklärung ausgerichtet: In den Zeitungen kursierten Geschichten über 40 Kraftwerksmitarbeiter, die unter Einsatz ihres Lebens versuchten, die Katastrophe zu verhindern. Es wurde so getan, als wären es Todgeweihte, die von der Betreiberfirma Tepco in den sicheren Untergang geschickt wurden, dann waren es angeblich nicht einmal Fachkräfte, sondern Obdachlose, die man irgendwo aufgesammelt haben will … Nichts davon stimmte. Es waren nicht nur 40, es waren keine Obdachlosen, sie waren auch nicht dem sicheren Tod geweiht. Die Leute wurden nicht mit Durchhalteparolen oder Drohungen dazu gebracht, um das Kraftwerk zu kämpfen. Die ganzen Journalisten, die hierzulande fragten, was jemanden dazu treibt, in einer Notlage gewisse Gefahren einzugehen, um etwas Schlimmeres zu verhindern, haben ihre Jobs vermutlich sehr gut gewählt. Als Feuerwehrmänner, Polizisten, Bergretter oder eben auch Kraftwerksmitarbeiter wären sie eine Schande für ihren Beruf. Immerhin schafften sie es, Pessimismus zu einer Kunstform zu erheben, indem sie sämtliche Rettungsbemühungen der Mitarbeiter als verzweifelte Versuche beschrieben, die das Unvermeidliche ja nur hinauszögern könnten. Aus vielen Meldungen klang das Unverständnis der Moderatoren, Journalisten und Korrespondenten hervor, warum diese verdammten gelbbäuchigen Schlitzaugen nicht einfach ordnungsgemäß ihr baldiges Ableben akzeptieren wollten, um als strahlendes Symbol im Kampf gegen die Nutzung der Atomkraft zu gelten.

Opfer gab es natürlich auch in Fukushima Daiichi zu beklagen. Einer starb im Kran, als das Erdbeben passierte. Andere sind ums Leben gekommen, als eine Knallgasexplosion ein Reaktorgebäude sprengte. Ein älterer Mann ist wegen Überanstrengung umgefallen – nicht unbedingt eine Überraschung, wenn man in einem sehr warmen Sommer mit Schutzanzug herumläuft und anstrengende Arbeit erledigt. Strahlentote sind anders als in Tschernobyl bisher nur eine Möglichkeit, keine Tatsache. Das hinderte aber selbst die Redakteure der ehrwürdigen Tagesschau nicht daran, den evakuierten Bereich um Fukushima Daiichi als „Todeszone“ zu bezeichnen. Objektive Berichterstattung sieht so nicht aus.

Die Einschätzungen der Beobachter, die allesamt auf den Informationen beruhten, die die japanische Regierung und die Betreibergesellschaft herausgaben, lagen oft auf entgegengesetzten Enden einer Katastrophenskala. Die einen waren optimistisch, dass es gelingen würde, die Kühlung wiederherzustellen, bevor eine Kernschmelze einsetzen kann, die anderen waren überzeugt, dass die Kernschmelze unvermeidlich wäre und in diesem Fall der geschmolzene Kern sich durch den Reaktor und den Boden darunter fressen würde, um beim Kontakt mit dem kalten Grundwasser eine gigantische Knallgasexplosion auszulösen, die das hoch radioaktive Kernmaterial über den ganzen Norden der Insel verteilen und somit einen Großteil Japans unbewohnbar machen würde – inklusive Tokyo. (Ich habe gelesen, dass das Kraftwerk auf blankem Fels gebaut wurde, damit sich bei einem Erdbeben der Grund unter dem Erdbeben nicht verflüssigen kann. Ich bin kein Geologe, deswegen stelle ich mir die Frage, ob es dann überhaupt möglich wäre, dass der geschmolzene Kern unter dem Reaktor auf Grundwasser treffen könnte?) Am Ende hatten beide Seiten unrecht. (Ich übrigens auch – ich hatte erwartet, dass die Maßnahmen ausreichen werden, um Kernschmelzen zu verhindern.) Die Reaktorkerne der Reaktoren 1 bis 3 sind vermutlich zumindest teilweise geschmolzen, aber es kam bisher nicht zu der großen Katastrophe, vor der gewarnt wurde. Und trotzdem benehmen sich die Apokalyptiker so, als hätten sie recht behalten.

Kernkraft hat in Deutschland eben einen miesen Ruf, teils berechtigt, teils unberechtigt. Die Medien selbst sind daran nicht ganz unschuldig, da sie über Kernkraftwerke anders berichten als über andere Kraftwerke. Ein Transformator in einem Kohlekraftwerk brennt – ein Vierzeiler für eine Randspalte. Ein Transformator in einem Kernkraftwerk brennt – ein warnender Artikel über die Gefahren der Atomkraft auf einer der ersten fünf Seiten. Kernkraftwerke sind wegen ihres Gefahrenpotenzials aus gutem Grund ganz besonders strengen Regelungen unterworfen, fast jeder Furz ist meldepflichtig, sobald er irgendwie mit dem Kühlkreislauf oder dem Reaktor zu tun hat. Diese begründete Vorsicht entwickelt sich dank der Medien zum Bumerang: Weil viele Dinge gemeldet werden müssen, die für andere Kraftwerke nicht meldepflichtig sind, entsteht oft der Eindruck, in den Kernkraftwerken würde häufiger etwas schiefgehen als anderswo, obwohl bisher in Deutschland die eingebauten Sicherheitsmechanismen immer so funktioniert haben, wie es geplant war. Niemand würde sagen, dass ein Auto einen Unfall gehabt hat, wenn eine Notbremsung die Kollision verhinderte. Wenn ein Kernkraftwerk aus Sicherheitsgründen eine Schnellabschaltung vornimmt, kommt es dagegen in Zeitungsartikeln so rüber, als wäre das Kraftwerk bereits radioaktiv strahlender Schrott.

Der Versuch, ein bisschen Rationalität in die Diskussion um die Zukunftsfähigkeit und die Risiken von Atomkraft reinzubringen, ist wegen der Voreingenommenheit der Medien eine undankbare Aufgabe. Der studierte Physiker und WDR-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, der nun wirklich schon vor dem Unglück in Fukushima Daiichi in seinen Sendungen eine skeptische Haltung gegenüber Kernkraftwerken demonstrierte, merkte dies etwa, als er in Diskussionsrunden eine besonnene Betrachtung der Problematik präsentierte und sich pauschalen Verurteilungen verweigerte. Prompt wurde ihm unterstellt, er wäre von der Atomindustrie gekauft worden. Und das war kein Einzelfall: Nicht nur in den Foren bei SPIEGEL Online wurde jeder, der nicht den Atomtod predigte, als Lakai der nuklearen Energieversorger hingestellt – auch bei mir vermuteten einige, ich würde Geld von den Betreibern der Kernkraftwerke bekommen. Wenn Geldverdienen nur so einfach wäre. Andere Physiker mussten feststellen, dass ihre Fachkompetenz in ihrem eigenen Bekanntenkreis offenbar weniger Gewicht hatte als die Strahlentodfantasien irgendwelcher Journalisten, die ihre kaum von Sachkenntnis getrübten Vergleiche zwischen Tschernobyl und Fukushima Daiichi auf totes Holz drucken konnten.

Ich mag eingebildet sein, aber wer nicht mal weiß, wie ein Atomkraftwerk funktioniert und welche Unterschiede es zwischen dem Tschernobyl-Reaktor und denen in Fukushima Daiichi gibt, die das Unfallverhalten beeinflussen, der sollte mir nicht weismachen wollen, dass er über die Gefahren der Atomkraft besser Bescheid weiß als jemand, der das studiert hat oder seit Jahren direkt mit Reaktoren arbeitet, es also quasi um dessen eigenes Leben geht, wenn er sich um die Sicherheit von Kernkraftwerken Gedanken macht.

Und so wundert es wohl nicht, dass Deutschland hastig eine Ethikkommission einsetzte, in der unter anderem Vertreter der Kirchen und Unternehmen, die an Gasförderunternehmen wie Gazprom beteiligt sind, sich dafür einsetzten, möglichst rasch aus der Kernkraft auszusteigen. An sich ein lobenswertes Ziel, aber die Umsetzung verläuft ungefähr so geplant wie die Flucht aus einem brennenden Haus. So setzte man als Endpunkt das Jahr 2022. Sogar Japan, welches die Katastrophe ja immerhin im eigenen Land hat, ist nicht so blöd, sich auf so einen raschen Ausstieg festzulegen, weil so ein Umbau der Energieversorgung nun mal verdammt lange dauert und viel Geld kostet. Den Zeitplan konnte man sich nur deswegen schönrechnen, weil man auf Energiespeichertechnologien setzt, die es bisher noch nicht gibt (und die deswegen garantiert in den nächsten zehn Jahren noch nicht marktreif sein werden, selbst wenn man sie entwickeln sollte), und anders als so ziemlich jedes andere Land der Erde davon ausgeht, dass unser Strombedarf in Zukunft sinken wird, anstatt zu steigen. Mit den erneuerbaren Energien allein wird sich der Atomausstieg nicht machen lassen, weswegen neue Kohle- und Gaskraftwerke gebaut werden müssen. Auf Wiedersehen, Klimaziele. Herzlich willkommen, größere Abhängigkeit von russischem Gas. Und selbst dann werden wir noch Strom von außen zukaufen müssen – der vermutlich zum großen Teil aus Atomkraftwerken in Frankreich und Tschechien stammt. Und man möge sich nicht dem Märchen hingeben, man könnte doch einfach beim Energieversorger Ökostrom bestellen. So viel Ökostrom wird nämlich bei uns gar nicht produziert, und wenn zum Beispiel Norwegen seinen Ökostrom für teures Geld nach Deutschland verkauft, heißt das nur, dass die Norweger wiederum billigeren Atomstrom von den Schweden kriegen, um ihren eigenen Bedarf zu decken. (Davon, dass man eh nicht wissen kann, aus welchem Kraftwerk der konkrete Strom stammt, der von der Heimelektronik aus der Steckdose genuckelt wird, will ich gar nicht anfangen.)

Heißt im Endeffekt also: Global gesehen ist der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie gar kein Vorbild, sondern zementiert eher die Abhängigkeit von fremden Kernkraftwerken in Europa. Die anderen Länder können ihren eigenen Ausstieg aus dieser Form der Energieversorgung noch länger hinauszögern, indem sie auf die enormen Kosten verweisen, die uns in Deutschland noch blühen werden, und wesentlich sicherer werden wir auch nicht leben. Angst, egal ob rational oder irrational, mag zum Leben dazugehören. Aber wer auf dieser Basis Politik macht, der kann eigentlich nur Fehler machen.

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