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Der deutsche Fernsehscheiß

Am 11. Oktober 2008 erschütterte ein Erdbeben die deutsche Fernsehlandschaft. Was bisher nie jemand ahnte, wurde von einem mutigen Einzelkämpfer an die Öffentlichkeit gebracht: Marcel Reich-Ranicki lehnte den Fernsehpreis ab, weil das deutsche Fernsehen kacke wäre. Nun plötzlich merkten alle anderen es auch, und das Jammern und das Wehklagen waren groß. Okay, Schluss mit dem Quatsch. Ein alter Mann motzt plötzlich über das Fernsehen, und schon sind die Medienschaffenden in Aufruhr und stehen kurz vor der Selbstgeißelung – natürlich ohne das Programm zu ändern und noch einen Monat später mit Uri Gellers Alienshow den absoluten Tiefpunkt des Fernsehjahres 2008 zu setzen. Was ist mit Oliver Kalkofe? Was ist mit mir? Was ist mit den vielen anderen, die sich seit Jahren über die Qualität des Fernsehens beschweren, weil wir es tatsächlich gucken (müssen)? Wieso ignorieren die Fernsehmacher die Zuschauer, aber fallen sofort in die Schreckstarre, wenn Marcel Reich-Ranicki sich angepisst bei der Verleihung zum Deutschen Fernsehpreis zu Wort meldet?

Ich finde die ganze Geschichte immer noch suspekt. Marcel Reich-Ranicki sollte den Fernsehpreis für sein Lebenswerk bekommen. Schon das allein halte ich für ungerechtfertigt, denn Reich-Ranicki ist kein Fernsehmacher und war es nie. Er hat jahrzehntelang mit seinem "Literarischen Quartett" Sendezeit mit selbstgefälligem Literatengequatsche gefüllt und sich für ein paar andere Sendereihen dabei filmen lassen, wie er sich mit einem anderen Langweiler über bekannte Autoren unterhält. Das war vielleicht hochkulturelles, aber kein gutes und unterhaltendes Fernsehen. Er war selbst kein Fernsehmensch. Man sieht ihm an, dass er seine Abende lieber mit einem Buch als vor dem Fernseher verbringt. Dass ausgerechnet die Fernsehindustrie ihm einen Preis verleihen möchte, ist ungefähr so, als würde die Fleischerinnung den "Goldenen Hinterschinken" an PETA verleihen.

Aber gut – er erklärte sich bereit, den Preis entgegen zu nehmen, und mit Rücksicht auf sein Alter legte man die Verleihung bei der Veranstaltung sogar nach vorne. Und dann weigert sich der Mann, den Preis entgegen zu nehmen, mit Hinweis auf den "Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben." Er wolle nicht in einer Reihe stehen mit den Leuten, die an diesem Tag ausgezeichnet wurden. Offenbar basiert seine ganze Kritik am deutschen Fernsehen nicht etwa auf regelmäßigem oder auch nur gelegentlichem Fernsehkonsum, sondern auf den Ausschnitten, die während der Veranstaltung gezeigt wurden. Und wenn man sich die prämierten Sendungen anschaut, kommt man immer mehr zu dem Schluss, dass es hier gar nicht um die objektiv schlechte Qualität des deutschen Fernsehens geht: "Contergan", "Das Schweigen der Quandts", "Doctor’s Diary", "neues", "Switch Reloaded"… all das ist kein schlechtes Fernsehen. Selbst "Deutschland sucht den Superstar" ist keine schlechte Sendung, sondern bietet zwar keine sehr anspruchsvolle, aber doch gute Unterhaltung. Von dem wirklich schlechten deutschen Fernsehen – "Quiz Night", "Niedrig und Kuhnt", "Imbiss live", "Brisant", "Gülcan und Collien ziehen aufs Land", um nur einige Sendungen zu nennen – hat Marcel Reich-Ranicki nichts mitbekommen. Er hat auch nichts mitbekommen von den anderen Sünden des deutschen Fernsehens. Dass das Öffentlich-Rechtliche große Hollywoodfilme mit Vorliebe mitten in der Nacht versendet (oder schon um 19.15 Uhr startet, damit jeder den Anfang verpasst), oder dass diese Sendeanstalten gleichartige Sendungen wie etwa Zoo-Dokumentationen alle zur gleichen Zeit ausstrahlen, davon weiß Reich-Ranicki nichts. Auch dass ein beträchtlicher Anteil des Programms der Privaten aus Shows besteht, in denen D-Promis vor einem Bluescreen sitzen und Clips kommentieren, damit andere D-Promis auf dem Sofa mit Oliver Geißen oder Hugo-Egon-Balder darüber reden können, gehört vermutlich nicht zu Reich-Ranickis Fernsehwissen. Was ihn an diesem Abend beleidigt hat, war nicht die Qualität des deutschen Fernsehens, sondern dass das deutsche Fernsehen nicht auf den Geschmack eines 88jährigen Bücherwurms ausgerichtet ist, der das Fernsehen sowieso nicht so recht mag.

Oder mag er es jetzt vielleicht doch? Was als Demontage der deutschen Fernsehwelt begann, machte Reich-Ranicki in meinen Augen bald zur Demontage der eigenen Person. Elke Heidenreich meckerte nach der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises, dass Thomas Gottschalk die Laudatio auf den greisen Literaturkritiker halten sollte und nicht etwa sie, die selbst etwas mit Literatur zu tun hat, auch im Fernsehen arbeitet und sich zum Freundeskreis des Geehrten zählt. Sie berichtete von einem Telefongespräch mit Reich-Ranicki, der vor der Veranstaltung wohl derselben Meinung war, und sie spielte auf Schwierigkeiten mit dem ZDF an, der sich bei Verhandlungen um die Ausstrahlungszeit ihrer Sendung "Lesen!" wohl sehr widersprüchlich verhalten haben soll. Doch da hatte sie nicht mit dem Literaturpapst Reich-Ranicki gerechnet. Er, der nach der spontanen Zusage Gottschalks zu einer Sonderdiskussion im Fernsehen über die Programmqualität wohl die Freundschaft zum blonden Moderator mit dem erlesenen Klamottengeschmack und dem Gummibärchenatem entdeckt hatte, bestritt plötzlich das Telefongespräch mit Heidenreich, nannte sie eine Intrigantin, machte ihre Sendung nieder und tat eigentlich alles, um jeglichen Verdacht einer freundschaftlichen Beziehung mit Elke Heidenreich von Grund auf zu zerstören. Vermutlich wäre er am liebsten in die ZDF-Archive eingestiegen und hätte alle Videobänder von "Lesen!"-Episoden verbrannt, in denen er zu Gast war, damit er selbst die persönliche Bekanntschaft mit Frau Heidenreich abstreiten könnte. Nebenbei warb er dann noch für ein Digital-TV-Paket von T-Home mit dem Slogan "Bei uns findet jeder ein Fernsehprogramm, das ihm gefällt" und steigerte die Verwirrung der Presse dann auch noch mit seiner Erklärung zu diesem Werbeeinsatz, indem er erstens klarstellte, dass er gar nicht gewusst habe, wofür er da Werbung macht, und zweitens gar nicht das Fernsehprogramm an sich kritisiert habe, sondern nur die Gala zur Fernsehpreisverleihung an sich. Man stelle sich vor, dass ein Schauspieler den Oscar ablehnt, nur weil ihm die Musik bei der Oscarverleihung nicht gefällt. Fast hofft man ja darauf, dass die ganze Sache nur ein Resultat von Altersdemenz ist.

Doch nicht nur Werbedeals mit T-Home und auch mit Ryanair ("Diesen Preis nehme ich an!") entsprangen dem spontanen Wutausbruch bei der Preisverleihung. Sein neuer Busenfreund Thomas Gottschalk trat nämlich bei der Prominentenausgabe von "Wer wird Millionär?" auf und bekam natürlich vollkommen zufällig *zwinker zwinker* eine Millionenfrage, in der es um den Schriftsteller Franz Kafka ging, was natürlich prompt ein Fall für den Telefonjoker Marcel Reich-Ranicki war. Der große Jubel und der Konfettiregen nach der richtigen Antwort konnten mich nicht von dem Verdacht ablenken, dass sich Reich-Ranicki mit dem Gemotze über die Qualität des Fernsehprogramms oder der Fernsehpreisgala vielleicht auch einfach mal zur Medienhure machen wollte, um seinen Marktwert oder zumindest seine Rente ein wenig aufzubessern. Und selbst wenn die Sache nicht von Anfang an durchgeplant wurde, so verdient er es dennoch nicht, Sprachrohr der beleidigten Zuschauer zu sein, denn sein Verhalten war das Gegenteil: Es war eine Beleidigung der Zuschauer.

Die umwälzenden Veränderungen der deutschen Fernsehwelt seit dem Oktober 2008 fanden daher auch gänzlich ohne Einfluss des alten Literaturkritikers statt. So hat Viacom zum Beispiel nur wegen finanzieller Schwierigkeiten beschlossen, das deutsche Comedy Central einzudampfen und nur als kümmerliches Nachtprogramm für den Kinder- und Jugendsender Nick zu erhalten. Ich versuche, diese Nachricht mit Trauer aufzunehmen. Aber es gelingt mir nicht, denn Comedy Central startete ja schon irgendwie als Totgeburt, und die paar Versuche, ein bisschen Leben in die Leiche reinzurammeln, waren zumeist eher halbherzig. Das Markenzeichen des Senders war seit seiner Geburt, mehr oder weniger abgelutschte Comedyserien in Dauerrotation und am besten noch mit vier Folgen täglich auszustrahlen, damit man nach dem Verpassen seiner Lieblingsfolge die Gewissheit haben konnte, in zwei Wochen eine neue Chance zu haben.

Auch bei anderen Sendern war der Zorn des Ranicki nicht halb so effektiv wie die Gleichgültigkeit der nicht zuschauenden Fernsehbesitzer. Sat.1 hatte mit "Dr. Molly und Karl" ja so eine originelle Serienidee: Eine moppelige Ärztin ist ganz doll direkt und zynisch. Die traurige Prämisse wurde nur noch von der Ausführung unterboten. Man engagierte beispielsweise für die Hauptrolle Sabine Orléans. Die Frau ist hauptsächlich Theaterschauspielerin, und daher sagte sie sämtliche Texte so überbetont und unnatürlich auf, als würde sie ein Stück von Schiller spielen. Das Anschauen der Serie war schließlich für die Zuschauer schmerzhafter als die Krankheiten der fiktiven Patienten, die in der Serie behandelt wurden. Inzwischen wurde die Serie abgesetzt, bevor alle gedrehten Folgen in den Äther gekotet werden konnten. Und auch der Sender selbst wird in seinen Fundamenten erschüttert, er soll nämlich von Berlin ins bayerische Unterföhring umziehen, wo die meisten anderen Sender der ProSiebenSat.1-Gruppe auch sitzen. Die vielen Millionen Euro, die der Umzug kosten wird, holt der Konzern aber wieder dadurch rein, dass man jede Menge Leute loswird, die nicht mit umziehen wollen (diese Personalreduzierungen sind meistens der einzige Grund, weswegen solche Umzüge von großen Unternehmen überhaupt durchgeführt werden, aber psst, soll ein Geheimnis bleiben). Auch das hat nichts mit dem Zorn Reich-Ranickis zu tun, sondern mit den Heuschrecken, die den Konzern gekauft haben und sich einen Dreck um die Programmqualität kümmern.

Eigentlich bleibt also alles wie gehabt. Für kurze Zeit haben die Sender mal so getan, als würde sie die Programmqualität tatsächlich interessieren. In Wirklichkeit geht es aber immer noch nur ums Geld, ob Werbeeinnahmen oder Gebühren, spielt dabei keine Rolle. Und der Zuschauer bleibt zumeist einfaches Glotzvieh ohne Einfluss, dem man stundenlang billigen Scheiß vorsetzen kann, denn die Quotenmessung berücksichtigt nicht die Leute, die sich verarscht fühlen und den Fernseher ausschalten. Um diese aber wiederzugewinnen, brauchen wir kein Fernsehprogramm nach dem Geschmack einer 88jährigen Medienhure, sondern eine Orientierung auf die besten Fernsehsendungen der Welt. Kein Ausrichten am Mittelmaß mehr, sondern ein Kampf um die Spitze. Wir sind Deutsche, kämpfen konnten wir mal gut, also sollte das doch hinzukriegen sein.

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