Frag den Hasen

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#44641
Ich finde das auch nicht überraschend. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, so vor 20 Jahren, das Internet war noch lange nicht so wie es heute ist. Ich würde sagen, es war annonymer und freier. Es gab noch kein social media und den ganzen Krams, wenn Du Bilder von Dir rausgehauen hast, gingst Du nicht davon aus, dass die sofort mit deinem Namen oder Wohnort in Verbindung gebrahctb werden, dass irgendjemand weiß wer Du bist und vor allem, das postet und groß öffentlicht macht, so dass es alle mitbekommen. Ich hatte mich Anfang der 2000er in Chatrooms rumgetrieben, ewig primitiv, wenn man sieht was heute geht, hatte aber auch darüber ein paar Bekanntschaften geschlossen, teils mit realen Treffen und teils dann auch mit Sex. Heute würde man sagen, war ziemlich naiv und vielleicht gefährlich, aber wir haben uns aus freien Stücken getroffen. Und es war irgendwie nett, mal Leute zu treffen, nicht aus Deiner Klasse, die schon ne Meinung von Dir haben usw.

Klopfer, was würdest Du sagen? Ist das Internet in den letzten 20 Jahren besser geworden oder schlechter?
Ich denke, es trifft beides zu. Es ist sowohl schlechter als auch besser geworden.
Am Anfang war noch eine Art Wildwestatmosphäre, man hatte deutlich mehr Freiheiten, konnte sich gut ausprobieren und auch ein Publikum finden, ohne sich den Vorstellungen anderer zu beugen. Es war die Zeit der persönlichen Websites, frühe Blogs, Diskussionsforen und auch die frühen Imageboards. Schon einige Jahre später band man sich an große Anbieter, von denen man nicht mehr so leicht wegkam und sich deswegen deren Regeln unterwerfen musste, und dabei ist es bis heute geblieben, auch wenn sich die Plattformen ändern. (Jetzt fängt ja auch Instagram an, out zu werden.) Und die Plattformen selber wurden auch strenger.
Natürlich war es nötig, dass sich das Internet ein Stück weit professionalisiert. Viele Sachen sind nicht mehr zu bewältigen, ohne dass da jemand erst mal viel Geld in die Hand nimmt, und das ist eher wenig wahrscheinlich, wenn das Medium insgesamt als Schmuddelecke gilt und nicht als guter Ort, um da auch Geld zu verdienen. (Versuch z.B. mal als kleiner Indie wirksam Spambots einzuschränken, ohne etwas zu benutzen, für das eine große Firma wie etwa Google verantwortlich war.) Das ist ein Teil, den ich durchaus begrüße.
Was mir aber fehlt, sind die Orte, an denen man wie früher mal die Sau rauslassen konnte, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. moot (Gründer von 4chan) hatte vor langer Zeit mal gemeint, 4chan wäre eine Art Gegenpol zu Facebook, weil die Leute auch was brauchen, wo sie anonym und roh sein können, um das rauszulassen, was ihnen auf der Seele brennt. Ich denke, das ist durchaus wichtig. Und als jemand, der wenige Monate nach dem Start von 4chan auf die Seite kam und die Entwicklung über längere Zeit mitverfolgt hat, kann ich auch sagen, dass der Nutzen weitaus höher ist, als einfach nur ein Ventil zu sein. (Wobei das mit dem Ventil auch wichtig ist. Auch bei furchtbaren Dingen - da kann Humor (selbst wenn er eigentlich unangemessen wäre) eine Strategie sein, um den Stress zu bewältigen.)
4chan schien für Uneingeweihte sehr grob, fast menschenverachtend. Aber gleichzeitig akzeptierte man sich gegenseitig. Es waren z.B. auch sehr viele Mädchen auf der Seite, und das, obwohl "girl" zu "cumdumpster" gefiltert wurde. (Taylor Swift war z.B. auch ein /b/-tard.) Im Endeffekt wusste man: Keiner dort hat irgendeinen Anspruch darauf, moralisch über anderen zu stehen, und das machte alle auf eine erfrischende Weise gleich. Das sorgte aber auch für gute Diskussionen. Politisch schätze ich, dass zu der Zeit die knappe Mehrzahl der User dort eher links von der Mitte waren, obwohl alle ganz viele rassistische und sexistische Witze gemacht haben. Aber weil keiner dort sich für einen Heiligen halten konnte, waren Unterhaltungen auf der Seite sehr fruchtbar, weil jeder mit Argumenten (oder wenigstens einem blöden Meme) kommen musste. Viele der interessantesten Diskussionen, die ich im Internet gelesen habe, fanden auf 4chan statt, weil dort Leute aus den verschiedensten Richtungen ihre Standpunkte dargelegt haben und auf die Standpunkte der anderen reagiert haben. Und am Ende haben sich die Leute nicht weniger respektiert als vorher, eher sogar mehr, weil man einsehen musste, dass die andere Seite eben nicht nur ein Zerrbild war, das aus purer Lust am Unglück anderer alles Schlechte in sich vereinte. (Das berüchtigte /pol/ gab's damals gar nicht, das wurde erst 2011 eingerichtet, da war 4chan schon nur noch ein Schatten seiner selbst.) Auch gewisse Insiderinformationen wurden dank der Anonymität für normale Menschen erreichbar. Bei 4chan konnte man erfahren, wie gut und schlecht es an amerikanischen Schulen lief. Bei 4chan erzählten Entwicklungshelfer ein ungeschöntes Bild ihrer Erfahrungen. Bei 4chan konnte man nachlesen, wieso die angeblich milliardenschwere Kinderpornoindustrie, die so gerne als Schreckgespenst von Politikern gezeichnet wird, um härtere Gesetze durchzudrücken, gar keine ist. Man konnte Fragen stellen, man konnte das Gesagte verurteilen, man konnte alles tun - außer demjenigen einen Maulkorb zu verpassen, weil einem nicht in den Kram passte, was er sagte.
Und dann kam die Wokeness. Worte sind ganz dolle Gewalt, wer mal was politisch Unkorrektes sagt, ist ein schlechter Mensch, 4chan ist sowieso ganz übel und mit den Schmuddelkindern von der anderen Seite redet man erst recht nicht. Krasse Witze gehen natürlich gar nicht, da könnte sich ein Opfer diskriminiert fühlen. Die Folge: Die Linken haben sich zum Großteil verpisst oder halten die Fresse, die Rechten wurden mehr, und es vermehrten sich dann auch die wirklich Rechtsextremen dort. Ein Gegenhalten fand dann gar nicht mehr statt. Resultat: Die Rechten können ihre Standpunkte darlegen und die Unentschlossenen, die sich dahin verirren, eher auf ihre Seite ziehen. Die Linken können nicht mehr memen und sind auch gar nicht mehr gewohnt, ihre Position verteidigen zu müssen, weil sie sich auf die stark regulierten Bereiche (oder ihre eigenen linken Plattformen) zurückgezogen haben, wo man einfach mal jemanden sperren lassen kann, wenn der was Schlimmes sagt. Nice job breaking it.
Natürlich war auch nicht alles super mit der Offenheit, aber ich glaube, man hat negative Auswirkungen auch aufgebauscht (und die Schwelle reduziert, ab der was als schlimm gilt). Und ich denke nicht, dass die Ankündigung von Amokläufen, die gelegentlich mal passierte, ein Hinweis darauf ist, dass diese Amokläufe erst wegen 4chan passieren würden. Auf der anderen Seite hat man vergessen, dass 4chan sich auch für Schwächere stark gemacht hat. Karten und Besuche für einsame Veteranen im Altersheim, Tierquäler identifizieren und melden, Scientology das Leben schwermachen und so weiter...
Was das Nackigmachen im Netz angeht, natürlich muss man da aufpassen wegen Doxxing (obwohl das bei 4chan z.B. meist eher bei Mädels passiert ist, die sich nicht auf 4chan direkt nackig gemacht haben) und Stalking, aber ich glaube, die Gesellschaft tut den Menschen auch keinen Gefallen dabei, wenn sie da überreagiert, weil das natürlich das Gefühl verstärkt: "Ups, ich habe Schande über mich gebracht und alle anderen verurteilen mich dafür." Da wäre es vermutlich für die Psyche der Mädchen, die das bereuen, am Ende besser, wenn alle anderen kollektiv mit den Schultern zuckten und eher diejenigen, die sie dafür verurteilen, in die Schranken weisen. Damit würden nämlich auch Erpressungsversuche ins Leere laufen. Im Endeffekt ist das Netz eben doch noch der sicherere Weg, seinen neuen Sex-Appeal auszutesten, als das irgendwo von Angesicht zu Angesicht zu tun.
Ich vermisse die Unbeschwertheit von damals schon sehr und hoffe, dass zumindest die Atmosphäre wieder lockerer wird und man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt. (Und die Mädels sollen sich wieder mehr ausziehen! :zugabe: ) Die Anarchie von früher kommt wohl nicht wieder zurück, und die Regulierungswut der Regierungen wird da auch noch lange nicht eingedämmt sein. (Was haben wir uns früher dagegen gewehrt, dass die Konservativen uns zensieren. Und jetzt kommt von links derselbe Scheißdreck mit emotionalerer Begründung.)