Ein Klopfer in den Grenzen von 2005
Ungefähr Mitte Mai stieg ich zum ersten Mal seit etwa einem halben Jahrzehnt wieder auf eine Waage. Noch am gleichen Abend installierte ich auf meinem Schlaufon eine App zum Kalorienzählen, und seitdem hat nichts meine Lippen passiert, ohne akribisch mitgeloggt und in ein Kalorienbudget eingeplant zu werden.
Die Zahl, die mir die Waage anzeigte, war ein Weckruf für mich. Natürlich wusste ich, dass ich in den letzten Jahren deutlich an Gewicht zugenommen habe. Und natürlich habe ich gemerkt, dass meine Kleidung enger wurde und mein Bauch rund erschien. Allerdings: Die ersten 21 Jahre meines Lebens war ich untergewichtig, und auch da hatte ich immer das Gefühl, einen dicken Bauch zu haben, selbst als andere mir bescheinigten, viel zu dünn zu sein. Ich bin nicht fähig, meinen Bauch als schlank anzusehen, für mich ist er immer irgendwie dick. Das macht es auch so schwierig für mich, objektiv einzuschätzen, ob ich nun dick aussehe oder nicht. Subjektiv sehe ich in meinen Augen immer dick aus. Natürlich bin ich in der Lage, auch auf Fotos von mir einen großen Unterschied zu erkennen, aber ohne direkten Vergleich ist es für mich, was meinen Körper angeht, wirklich schwierig.
Nun stand ich also auf der Waage, und die zeigte mir 85 Kilogramm an. Deutlich übergewichtig für meine Körpergröße, und das bei mir, der die meiste Zeit seines Lebens zu wenig wog. (Später kaufte ich mir eine digitale Waage, und die zeigte mir zwei Kilo mehr an als die alte. Also werde ich in diesem einschneidenden Moment wohl eher 87 Kilogramm gewogen haben.) Mir wurde sofort klar: Das geht nicht. Ich war nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zu dick, und wenn ich nicht gegensteuere, würde ich bald adipös sein.
Vier Monate später bin ich über 20 Kilo leichter, und ich fühle mich viel wohler in meinem Körper. Das Gesicht, das ich gelegentlich rasiere, sieht mir auch wieder ähnlicher. Und nicht zuletzt bin ich stolz auf mich, weil ich durchgehalten und mein Ziel erreicht habe. Jedes Jahr im September fahre ich für ein Wochenende in Kassel zur Connichi, einer Manga- und Anime-Convention. Und dort wollte ich mindestens 20 Kilo weniger mit mir herumtragen.
Das bedeutet, dass ich jeden Monat fünf Kilo Schwabbel loswerden musste. Abnehmen ist zwar nicht leicht, aber einfach: Man muss weniger Kalorien zu sich nehmen, als man verbraucht. Das heißt hauptsächlich, nicht so viel zu futtern. Die meisten Tage habe ich weniger als 1000 Kalorien vertilgt, meine App verrät mir, dass ich in den letzten 30 Tagen durchschnittlich sogar nur 918 Kalorien zu mir genommen habe, also deutlich weniger als die Hälfte meines Tagesbedarfs. Das Zählen meiner Kalorien war durchaus erhellend für mich: So habe ich festgestellt, dass es nicht die normalen Mahlzeiten waren, die mich so moppelig gemacht haben, sondern viel eher die kleinen Snacks nebenbei. Wenn ich arbeite, esse ich gerne mal eine Tafel Schokolade oder greife in eine Gummibärchentüte. An Filmabenden geht gerne mal eine halbe Tüte Chips oder Erdnussflips drauf. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie schwer ich geworden wäre, wenn ich immer die ganzen Tüten auf einmal leeren würde. Bevor ich mich an diesem besagten Tag im Mai auf die Waage stellte, habe ich 15 Toffifee binnen einer halben Stunde gefressen. Die nächsten 15 Toffifee, die noch in der Packung waren, habe ich mir dann nach und nach im Laufe der nächsten sechs Wochen gegönnt – und ich glaube, ich habe sie noch nie so bewusst genossen. Zum Glück musste ich mich bei den Getränken nicht umstellen: Ich trinke (abgesehen von einer täglichen Tasse Milch) zumeist nur Wasser und zuckerfreie Cola. Alkohol konsumiere ich sowieso nur selten. Das heißt für die Zukunft, dass ich mich gar nicht so sehr umgewöhnen muss, sondern einfach nur drauf achten sollte, bei Süßigkeiten und Knabbereien etwas mehr Zurückhaltung zu üben als früher.
Mein ehrgeiziges Abnehmziel bedeutete also, mich kräftig einzuschränken. In gewisser Weise war es leichter, als ich dachte, aber andererseits war es auch schwieriger. Ein Hungergefühl habe ich seltener, als ich es erwartete, zumeist ist es einfach nur ein kleiner Appetit, der leicht zu ignorieren ist. Schwieriger ist es, weil es tatsächlich einen Unterschied bei der Arbeit macht, wenn ich nicht nebenbei kalorienreiche Leckereien in meine Futterluke schaufle. Ich bin langsamer, ich muss mehr nachdenken, um Ideen zu kriegen, ich lasse mich auch leichter ablenken. Man glaubt gar nicht, wie laut eine Schokoladentafel aus dem Kühlschrank schreien kann, dass sie endlich mal gegessen werden will. Dieser Konzentrationsmangel erklärt teilweise, warum es in den letzten Monaten weniger Neues auf der Seite gab als sonst.
Obwohl die Hauptsache war, die Kalorienzufuhr zu beschränken, wollte ich auch meinen Kalorienverbrauch steigern. Und das heißt: Sport. Nun haben Sport und ich seit jeher eine recht klare Beziehung zueinander. Wir mögen uns nicht und gehen uns aus dem Weg. Aber wenn ich mein Abnehmziel erreichen wollte, ohne dabei auch noch meine sowieso schon kümmerliche Muskelmasse einzubüßen, blieb mir nichts anderes übrig, als den inneren Schweinehund zu überwinden. Kurz nach dem Beginn meiner Körperverbesserung fing ich auch an, auf dem Heimtrainer zu strampeln und alle zwei Tage Krafttraining durchzuführen. Ich lese bei anderen Leuten, dass sie dann total die Freude am Sport entdecken und ein Hochgefühl bekommen. Wenn das normal ist, bin ich wohl kaputt. Ich bin nach dem Sport eigentlich nur fix und fertig. Trotzdem gibt es einen sichtbaren positiven Effekt: Meine Oberarme sind zwar immer noch nicht das, was man gemeinhin als muskulös bezeichnen würde, aber so einen Umfang wie jetzt hatten sie noch nie. Dennoch gibt es auch einen klaren Nachteil: Sport frisst ganz schön viel Zeit, und zwar nicht nur für die Übungen an sich. Die Stunde, die ich danach schweißgebadet und geschafft herumliege und mich selbst bemitleide, kann ich nämlich auch nicht produktiv nutzen. (Immerhin kann ich während meiner Heimtrainerzeit Bücher lesen.)
Eines der Bücher, die ich in der Zeit las, war übrigens „Fettlogik überwinden“ von Nadja Hermann (einigen vielleicht bekannt von den „Erzählmirnix“-Comics). Das Buch hat mir zwar nicht geholfen, mein Abnehmen zu vereinfachen – schlicht deswegen, weil ich von all diesen Fettlogiken im Buch keine (mehr) selbst pflegte, was mich selbst überraschte – aber es war erstens nett zu erfahren, dass ich recht hatte, und zweitens habe ich recht viel gelernt über die Gesundheitsrisiken durch Übergewicht und zu viel Fett im Körper, was durchaus dabei motivierte, meinen Prozess durch hartnäckig betriebenen Sport zu beschleunigen.
Während mir vor einem halben Jahr kaum jemand sagte: „Du gehst langsam echt in die Breite, mach mal was“, gibt’s jetzt so einige, die sich gleich Sorgen machen, ob ich es mit dem Abnehmen nicht übertreibe, obwohl ich noch weit vom Untergewicht entfernt bin. Und natürlich kann man sich jetzt fragen: „Okay, der Klopfer wiegt jetzt 66 Kilo, ist er denn damit nicht zufrieden?“ An sich sollte ich zufrieden sein, aber es gibt eine andere Größe, an der ich noch arbeiten muss: meinen Leibesumfang. Meine Gene sind zwar nicht an meinem Fett schuld, aber daran, dass sich das Fett vornehmlich in meiner Mitte sammelt.
Da Bauchfett besonders gesundheitsschädlich ist, sollte der Taillenumfang nicht mehr als die Hälfte der Körpergröße betragen. Und ich bin zwar morgens knapp unter diesem Punkt, aber sobald ich was gegessen habe, bin ich wieder drüber. Deswegen mach ich trotzdem noch ein paar Wochen weiter, bis die Plauze noch ein paar Zentimeter geschrumpft ist. Wenn das geschafft ist, kann ich doppelt so viel essen wie bisher und immer noch mein Gewicht und hoffentlich meine Maße halten. Und ich sehe dann vermutlich verdammt gut im Bikini aus.
Wenn man sich darauf einlässt, deutlich abzunehmen, verändert sich die Wahrnehmung. Plötzlich stellt man überall die Fettlogiken fest, von denen Nadja Hermann schrieb. Man bemerkt auch, wie die Medien, die angeblich so sehr den Schlankheitswahn propagieren und somit schuld daran wären, wenn dicke Menschen schlecht behandelt werden, eigentlich alles tun, um Übergewicht zu normalisieren und den Leuten beizubringen, dass sie a) nichts für ihr Gewicht könnten und b) auch nichts gegen ihr Übergewicht tun sollten. Nun ist es mir ja ziemlich egal, was andere mit ihrem Körper anstellen, aber ich denke, es sollte dann schon aus den richtigen Gründen sein und nicht, weil man irgendwelchen Märchen glaubt, die mit der Realität wenig zu tun haben. Wenn Leuten vermittelt wird, sie sollten lieber dick bleiben, weil es angeblich in den Genen läge, Diäten eh nicht funktionierten und Übergewicht ja sowieso gesünder wäre, dann finde ich das falsch. Ebenso finde ich falsch, wenn den Leuten erzählt wird, sie müssten sich sexuell von bestimmten Körpertypen angezogen fühlen, weil sie sonst furchtbar diskriminierend wären, oder etwas grundsätzlich falsch daran wäre, normalgewichtig zu sein. Ich hasse auch Sprüche wie: „Nur Hunde spielen mit Knochen, echte Männer stehen auf Kurven.“ Dieser echte Mann hier weiß selbst, worauf er steht, vielen Dank, ich muss mir keine Zweifel an meiner Männlichkeit einreden lassen, nur weil jemand beleidigt ist, weil andere nicht auf ihn stehen könnten.
Was ich besonders bescheuert finde: „Curvy Supermodel“ auf RTL II, ein Modelcasting, bei dem sich anscheinend Frauen unterhalb eines BMI von 30 gar nicht erst bewerben sollten. (Ab diesem Wert gilt man als adipös.) Ich finde es zwar nicht in Ordnung, dicke Menschen zu beleidigen und zu erniedrigen. Aber auf der anderen Seite finde ich es auch nicht in Ordnung, ihnen zu erzählen, dass gerade ihr Übergewicht liebenswert an ihnen wäre und darin auch der Weg zum beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg liegen würde. Das würden wir bei niemandem sonst machen. Jemand, der in allen Matheklausuren versagt, würde nie zu hören kriegen, dass ihn gerade sein miserables Matheverständnis als Zahlenakrobat begehrt machen würde. Ich selbst habe zu Schulzeiten auch nie vernommen, dass gerade meine relativ grauenhaften Weitsprungergebnisse mein Schlüssel zu Ruhm und Reichtum in der Leichtathletik werden würden. Aber kaum jemand sieht ein Problem darin, fettleibigen Frauen zu sagen, dass sie gerade wegen ihrer überzähligen Kilos besonders prädestiniert für einen Modeljob wären. Natürlich können auch adipöse Frauen attraktiv sein. Aber ich sag es mal so: Ich kenne keine adipöse Frau, die mit 20 Kilo weniger am Leib hässlicher wäre. Warum macht RTL II nicht gleich eine Show für Raucher, die nicht von den Kippen loskommen und die dann zeigen dürfen, wer von ihnen mit einem Glimmstängel am coolsten und attraktivsten rüberkommt?
Und es ist ja auch nicht so, als wenn die schlanken Mädchen, die zum Beispiel durch Heidi Klums Terrorcasting gehen, ihre Figur haben, weil der liebe Gott es so verfügt hat. All diese Mädchen achten darauf, was – und vor allem wie viel – sie essen. Sie machen auch verdammt viel Sport. Ihre Körper in Form zu halten, gehört zu ihrem Job. Ein sportlicher Körper ist nichts, was man sich erschummeln kann (selbst mit Anabolika nicht), dafür muss man hart arbeiten. (Deswegen ist es auch gar nicht leicht, das in seiner Freizeit nebenbei zu erledigen, wenn man einem normalen Job nachgeht.) Aber das Wichtigste dabei: Man kann prinzipiell diese Arbeit erledigen und muss sein Gewicht nicht als so gegeben hinnehmen wie sein Gesicht.
Die Bewerberinnen bei „Curvy Supermodel“ haben diese Arbeit nicht geleistet. Das ist auch in Ordnung, aber man sollte dann halt nicht unbedingt erwarten, dass man dieselben Chancen hat. Fast jede Entscheidung bedeutet gleichzeitig Verzicht auf Möglichkeiten, so auch in diesem Fall. Man kann vielleicht noch Model werden – aber Supermodel ist nicht drin. Das Schönheitsideal ist nun mal eher, dass man schlank sein sollte (übrigens nicht dank der deswegen oft gescholtenen Medien, die benutzen das nur, eben weil es das Schönheitsideal ist und die Leute das lieber sehen als korpulente Menschen), und das weltweit. Das ist auch nicht verwunderlich, weil Adipositas negative Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit hat und es evolutionär beknackt wäre, starkes Übergewicht im Hirn als sexuellen Anreiz zu verdrahten. („Curvy“ soll ja eigentlich auch die typische Sanduhrform bezeichnen, die frühere – und dabei sehr schlanke – Sexsymbole wie Jayne Mansfield, Marilyn Monroe oder die Coca-Cola-Flasche hegten und pflegten, aber die meisten Bewerberinnen bei „Curvy Supermodel“ haben gar keine ausgeprägte Sanduhrform. Für die ist „kurvig“ tatsächlich nur ein Euphemismus für „dick“.)
Männer werden in normalen Leben nicht so harsch beurteilt, wenn sie eine kleine Wampe haben, aber ich bin mir trotzdem bewusst, dass ich vom Männlichkeitsideal vor vier Monaten noch weiter entfernt war als sonst schon. Jetzt strebe ich weder eine Modelkarriere noch einen Auftritt als Kandidat bei der Bachelorette an, von daher kann es mir sowieso egal sein, was andere über meinen Körperbau denken. Hätte ich allerdings derartige Ziele, wäre die Einsicht unvermeidlich gewesen, dass mein Äußeres nicht das bietet, was die Leute in diesen Rollen sehen wollen, und das zum Teil aufgrund von Dingen, die durchaus in meiner Macht stehen. Frauen würden sicherlich auch bei „Fifty Shades of Grey“ nicht so anfangen zu tropfen, wenn man für die Rolle des Christian Grey einen Dicken gecastet hätte.
Ich will hier aber gar nicht auf Dicke einprügeln und fordern, sie sollten gefälligst abnehmen, damit sie nicht meine Augen beleidigen. Ich hoffe einfach, dass sich langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass Übergewicht kein Schicksal ist, man sich nicht davon entmutigen lassen sollte, was für seinen Körper zu tun, und es sich tatsächlich lohnt. Ich fühle mich jünger, ich fühle mich potenter (Tausende Frauen kreischen jetzt entsetzt „Was, noch potenter?“ ) und mir ist bewusst geworden, wie viel zusätzlichen Ballast ich meinen Gelenken und Organen zugemutet habe. Kein Wunder, dass ich nach einigen Treppenabsätzen schon gejapst habe. Es gibt kein gesundes Übergewicht, und ich möchte nicht gerne irgendwann feststellen, dass ich vielleicht allein deswegen pflegebedürftig werde und mein Leben nicht mehr selbstbestimmt führen kann, weil ich in den Jahrzehnten vorher zu hemmungslos gefuttert habe und sämtliche Warnzeichen meines geschundenen Körpers ignorierte.
Jetzt kann ich mir auch ohne schlechtes Gewissen meinem Körper gegenüber ein paar Stücke Streuselkuchen gönnen, weil die noch in mein Kalorienbudget passen. Und ich glaube, ich habe diesen Kuchen noch nie so sehr verdient wie jetzt.